Inspiration: Künstlerin Terri Lemire – „Affinity ist mein wichtigstes Werkzeug“
Terri Lemires kräftige Farben und stilisierten Figuren machen ihre Illustrationen sofort erkennbar. In diesem Interview spricht die kanadische Künstlerin über ihren kreativen Weg und warum Affinity ihr wichtigstes Tool ist, um Ideen zum Leben zu erwecken.
Terri, erzähle uns doch ein bisschen von dir und wie du zur Illustration gefunden hast.
Ich bin Künstlerin und lebe mit meinem Mann, unserem Kind und einer sehr flauschigen Katze namens Frida in einer kanadischen Prärieprovinz. Seit einigen Jahrzehnten male ich, aber in der Illustration bin ich noch relativ neu. Als ich Anfang der 2000er Jahre Malerei studierte, gefiel mir die illustrative Arbeit sehr gut, doch an meiner Universität wurde sie damals von den meisten Studierenden eher abgelehnt. Ich nehme an, dass sich diese Haltung inzwischen geändert hat, aber ich erinnere mich noch genau daran, dass das Wort „illustrativ“ während meines Aufnahmegesprächs als abwertende Beschreibung für eines meiner Projekte benutzt wurde. Also habe ich diesen Teil von mir für Jahre verdrängt und mich ganz auf die Malerei konzentriert. Mein Interesse an Illustration wurde nach der Geburt meines Kindes wieder entfacht, denn mit diesem Zeitpunkt kamen auch die Bilderbücher zurück in mein Leben. Jeden Tag las ich lustige und wunderschön gestaltete Geschichten, und bald wollte ich unbedingt selbst ähnliche Arbeiten schaffen. Als ich begann, über eine Bewerbung an einer Kunsthochschule nachzudenken und neue Portfolio-Stücke zu entwickeln, war es ein großartiges Gefühl, kreativ zu sein, aber auf völlig andere Weise als in meiner Malerei. Am Ende haben wir unser Leben komplett umgekrempelt, damit ich wieder studieren konnte! Meine Familie hat mich sehr unterstützt, und das Ganze war eine großartige Erfahrung, selbst während des Unterrichts in der Corona-Pandemie. Ich bin so froh, dass wir diesen Schritt gegangen sind, und ich freue mich immer noch über diesen neuen Aspekt meines kreativen Lebens.
Dein Talent fürs Geschichtenerzählen zeigt sich deutlich in deiner Arbeit. Was inspiriert die Geschichten und Figuren, die du erschaffst?
Kinder. Ganz klar. Kinder sind so herrlich albern, und ihre Fantasie scheint grenzenlos. Außerdem haben sie ein ganz spezielles Gespür dafür, zum Kern der Dinge vorzudringen! Mein eigenes Kind ist inzwischen zwölf, stellt verrückte Verbindungen her, erzählt alberne Geschichten, stellt wichtige Fragen … einfach großartig – und es ist immer in meinen Gedanken, während ich arbeite. Manchmal frage ich mich, ob meine Inspiration versiegen könnte, wenn mein Kind aus dem „Kindesalter“ herauswächst. Aber wahrscheinlich ist das nur ein weiterer Grund, mein eigenes „inneres Kind“ anzunehmen und mich von ihm leiten zu lassen.
Wir lieben die Vielfalt in deinem Skizzenbuch! Wie wichtig ist es für dich, weiterhin zu experimentieren und gibt es einen Stil, in dem du besonders gern arbeitest?
Danke! Das ist eine überraschend schwierige Frage für mich. Ich musste tatsächlich kurz überlegen, denn im Skizzenbuch herumzuspielen ist einfach etwas, das ich ganz selbstverständlich tue – ohne viel darüber nachzudenken. Das wirklich Spannende am Experimentieren mit traditionellen Medien im Skizzenbuch ist, dass es keinen „Rückgängig“-Button gibt. Und manchmal sind gerade die glücklichen Zufälle, die dabei entstehen, unglaublich wertvoll! Oft entdeckt man Dinge, die man anschließend bewusst einsetzt. Dadurch entsteht weniger Druck, wie etwas „aussehen sollte“ und genau das führt zu einer tieferen, persönlicheren Ausdrucksebene. Es steckt ein enormer Wert im Experimentieren, wenn man nichts zu verlieren hat.
Was meinen Lieblingsstil angeht … Ich hab sicher schon vieles ausprobiert, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt einen hab. Ich glaub, ich weiß eher, was nicht mein Stil ist. Realismus fällt mir da ein. Klar, ich kann das, aber Spaß macht’s mir nicht. Am liebsten arbeite ich an Dingen, die sich an der Realität orientieren, ohne ihr sklavisch treu zu bleiben. Eher weich und cartoonhaft. Man sagt mir, mein Zeichenstil sei über verschiedene Medien und Render-Stile hinweg ziemlich gut erkennbar, also denk ich nicht weiter drüber nach.
Erzähl uns von deinem kreativen Prozess. Wie entwickelst du deine Ideen zu fertigen Illustrationen in Affinity?
Ich fang fast immer auf Papier an, weil ich weiß, dass ich schnell verkrampfe, wenn ich zu früh am Bildschirm arbeite. Ich versuch auch, Referenzbilder so weit wie möglich aus meinem Prozess rauszuhalten. Sie sind gute Ausgangspunkte, aber wenn es das Projekt erlaubt, lass ich sie gern hinter mir. Danach teilt sich mein Weg: einmal für persönliche Projekte und einmal für Auftragsarbeiten. Bei meinen persönlichen Arbeiten fang ich meistens mit einer kleinen Skizze an, die mir besonders gut gefällt, die scanne ich dann in Affinity ein. Grobe kleine Kritzeleien werden immer ein- oder zweimal neu gezeichnet, aber im Grunde will ich einfach loslegen und sehen, was passiert! Ich glaube, persönliche Arbeiten führen oft zurück zum Experimentieren. Ich sollte auch sagen, dass ich bei Farben erstaunlich unbekümmert bin – ich plane sie fast nie im Voraus, achte aber immer darauf, meine Ebenen so anzulegen, dass sich Farben später leicht ändern lassen.
Seit wann nutzt du Affinity, und was hältst du davon?
Ich hab Affinity 2019 zum ersten Mal ausprobiert, damals war ich noch komplett traditionell unterwegs. Im ersten Jahr meines Designstudiums hab ich tatsächlich mein Trackpad für Vektorarbeiten benutzt, kaum zu glauben, oder? Affinity war superleicht zu lernen und zu bedienen, also bin ich dabei geblieben, als ich mir im Frühjahr ein Wacom gekauft hab. Ich weiß noch, dass ich den ganzen Sommer über Roboter gezeichnet hab – hundert Stück, um genau zu sein. Meine eigene kleine Zeichenchallenge, um mich an das Digitale zu gewöhnen. Es hat richtig Spaß gemacht, auch wenn dabei keine Meisterwerke entstanden sind. Lustigerweise war es ausgerechnet der Unterricht mit Adobe-Programmen, der Affinity bei mir erst so richtig unverzichtbar gemacht hat. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen: Dinge, die ich in Affinity für selbstverständlich hielt, schienen in Adobe plötzlich viel umständlicher, als sie sein müssten. Ehrlich gesagt hat mich das ziemlich empört, und ich bin sicher, meine Freunde konnten mein Gemurre irgendwann nicht mehr hören! Seitdem hab ich bei jeder Gelegenheit in Affinity gearbeitet, also immer dann, wenn ich nichts animieren musste. Ich hab Affinity für Illustrationen, zur Dokumentation meiner Arbeiten, für Produkt-Mockups, Buchlayouts und zur Vorbereitung von Kunstwerken für Animationsprojekte verwendet … Also, ja. Affinity ist mein Arbeitstier.
Hast du irgendwelche Lieblingsfunktionen?
Die Möglichkeit, mit Vektor- und Rasterebenen im selben Programm zu arbeiten, ist natürlich ein Riesenvorteil. In letzter Zeit arbeite ich meist nur mit Rasterebenen, aber genau das liebe ich immer noch an Affinity. Als ich nicht herausfinden konnte, wie das in anderen Programmen funktionieren soll, dachte ich erst, ich hätte etwas Offensichtliches übersehen. Aber nein, das ist einfach einer dieser typischen Affinity-Momente. Außerdem läuft Affinity ohne Abo, was für mich ein weiteres Plus ist, falls man das so nennen kann (ich tu’s). Schon als Studentin hab ich die faire Preisgestaltung geschätzt, und das hat sich bis heute nicht geändert. Was ich regelmäßig nutze, ist die Panoramafunktion: Damit füge ich mehrere Nahaufnahmen meiner Gemälde zu einem detaillierteren Gesamtbild zusammen. Ich liebe auch den Verlaufspinsel für Ebenen – ich nutze ihn IMMER, weil er einfach so viel Zeit spart.
Besonders gut gefallen uns deine Illustrationen mit Scherenschnitt-Effekt. Was hat dich dazu inspiriert, in diesem Stil zu arbeiten, und wie erzeugst du den Effekt in Affinity?
In letzter Zeit erreiche ich diesen Effekt etwas subtiler: mit Formen, die ich mit dem Rasterpinsel zeichne. Die Kanten sind leicht rau und papierartig, und ich setze ein oder zwei kleine Schatten, um die Tiefe zu betonen. In diesen Ebenen platziere ich mein Artwork zusammen mit einer Papiertextur im Multiply-Modus. Ich hab dafür eine kleine Bibliothek an Papiertexturen in einem Ordner, aus dem ich mich bediene. Manchmal darf das Ganze ruhig ein bisschen unordentlich sein, mit viel „Papier“, das rund ums Artwork sichtbar bleibt. Ein anderes Mal ist alles ganz sauber und präzise. So oder so finde ich, dass das etwas von meiner Handschrift in die Arbeit bringt, besonders, wenn das Bild ein bisschen an echtes Material erinnert.
Uns ist aufgefallen, dass du gerne an kreativen Challenges teilnimmst. Wie findest du, wirkt sich das auf deine Arbeit aus, und wie entscheidest du, bei welchen du mitmachst?
Was ich an Challenges liebe, ist, mir das Prompt anzuschauen und zu überlegen, wie ich etwas Unerwartetes daraus machen kann. Und dann ist es spannend zu sehen, was andere aus derselben Vorgabe geschaffen haben. Das ist eine großartige Übung, um kreativ zu denken und zu sehen, wie weit man eine Idee treiben kann. Davon abgesehen hab ich bisher gar nicht an vielen Challenges mitgemacht, eigentlich nur an zwei. Mein Terminkalender war bis vor Kurzem einfach zu voll dafür. The Cat Days of Summer war eine Challenge, über die ich zufällig gestolpert bin. Ich hab mitgemacht, weil alle fünf Tage eine neue Illustration dran war, das war machbar, und weil sich alles um Katzen drehte (ich liebe Stubentiger). Es war eine super Gelegenheit, eine kleine Serie in einem etwas anderen Stil zu machen und einfach Spaß zu haben und den hatte ich auch!
Peachtober … tja, das war ein ganz anderes Kaliber. Ich hab den Fehler gemacht, es richtig ANSTRENGEND werden zu lassen, ahaha. Ich hatte die Challenge in den letzten Jahren schon beobachtet und mir extra im Kalender markiert, weil die Community einfach super wirkte, und das war sie auch. Ich liebe die starken Illustrationen, die dabei entstanden sind – sie haben mir echt ein gutes Gefühl für meine aktuelle Arbeitsweise gegeben. Ganz ehrlich: Eine fertige Illustration pro Tag, den ganzen Oktober über, war einfach zu viel. Ich glaub nicht, dass ich das noch einmal von Anfang bis Ende so durchziehen würde. Meine Entscheidung, jeden Tag Arbeiten auf Portfolio-Niveau zu machen, schien mir damals okay, war aber völlig überambitioniert. Im Nachhinein frag ich mich wirklich, was ich mir dabei gedacht hab. Hey, Lektion gelernt, oder? Wenn ich diesen Herbst wieder mitmache, such ich mir ein paar Themen gezielt aus und bleib vielleicht bei ein oder zwei Prompts pro Woche.
Gibt es eine Illustration oder ein Projekt, auf das du besonders stolz bist? Kannst du uns etwas darüber erzählen?
Ja! Ich hatte die tolle Gelegenheit, ein Tier-Suchbild für eine Kinderhilfsorganisation zu gestalten, die gerade in ein neues Gebäude gezogen ist. Das Werk wurde im Frühjahr im dreistöckigen Treppenhaus als riesige Vinylaufkleber angebracht. Ich war noch nicht dort, um es mir selbst anzusehen, aber die Fotos sehen großartig aus, und ich hab gehört, dass es für viele im Gebäude einer der Lieblingsorte ist. Das Konzept dreht sich um kulturell bedeutsame kanadische Pflanzen und Tiere, die vom Meer (im Erdgeschoss) bis zum Himmel (im dritten Stock) angeordnet sind. Die Gestaltung sollte auf Kinder beruhigend wirken, mit sanften Formen, verspielten Texturen und fantasievollen, aber ruhigen Farben. Das gesamte Artwork wurde als Vektorgrafik umgesetzt, um die großen Druckformate zu ermöglichen, eine schöne Abwechslung, da ich sonst meist rasterbasiert arbeite. Mein Lieblingstier ist der Bär, der über einer Tür sitzt, wie einer der Schwarzbären, die ich früher oft in den Bäumen gesehen hab. So süß.
Was sind deine kreativen Ziele für die Zukunft?
Mein großes kreatives Ziel ist es, ein Bilderbuch zu illustrieren. Und wenn ich wirklich groß träume … sogar mehr als eins! Ich will es unbedingt schaffen, egal ob es meine eigene Geschichte ist oder die von jemand anderem. Seit ich mit der Illustration angefangen hab, hab ich schon eine Menge großartiger Dinge gemacht, darunter übrigens auch einen vierminütigen Animationsfilm (den ich NIE hab kommen sehen!). Das war ein völlig verrücktes kreatives Ziel, von dem ich nicht mal wusste, dass ich’s hatte, aber ich hab es trotzdem erreicht. Aber ein Bilderbuch hab ich noch nicht gemacht und genau das hat mich überhaupt erst zur Illustration gebracht. Ein kurzfristigeres Ziel ist, meine Arbeiten wieder auf kleinen Märkten anzubieten. Das plane ich gerade. Die Erfahrung hat mir gezeigt: Niemand verkauft Sticker und kleine Drucke auf kleinen Märkten, um reich zu werden. Aber es ist eine unglaublich lohnende und schöne Möglichkeit, meine Illustrationen auf eine Weise in die Welt zu bringen, die für viele Menschen zugänglich ist.
Wenn du in der Zeit zurückreisen und dir zu Beginn deiner kreativen Laufbahn einen Tipp geben könntest, welcher wäre es und warum?
Ich glaub, mein Rat hätte zwei Teile. Das ist etwas, das ich jetzt, wo ich älter bin, viel klarer sehe. Und ja, ich weiß, das ist vielleicht eine Verallgemeinerung, aber viele kreative Träumer machen genau diese Erfahrung … Erstens: Denk dran, wenn Familie oder Freunde deine kreativen Ziele nicht ganz unterstützen, dann oft, weil sie dich lieben. Versuch, die Sorgen deiner Liebsten nicht als Kritik an deiner Arbeit zu sehen. Meistens geht’s gar nicht darum. Wahrscheinlich wollen sie einfach nur, dass du finanziell abgesichert bist. Sie machen sich Sorgen um dich, nimm das ernst. Hör ihnen zu und bezieh ihre Bedenken mit ein. Daran knüpft mein zweiter Rat an: Schau dir deine Stärken an. Wenn Durchhaltevermögen nicht dazugehört, fang an, es zu entwickeln. Denn es hat schon seinen Grund, warum so viele sagen, wie schwer es ist, als Künstler:in über die Runden zu kommen. Du musst es wirklich wollen. Zu diesem Job gehört weit mehr, als einfach nur gute Arbeit zu leisten. Ich persönlich werde wohl so lange daran arbeiten, wie ich Künstlerin bin, und ich bezweifle, dass es für mich jemals wirklich leichter wird. Aber ich bleib optimistisch!
Wenn du mehr von Terris großartigen Arbeiten sehen willst, schau auf ihrer Website vorbei oder folg ihr auf Instagram.
Zusammen kreativ sein.
Kreatives Kerosin für Leute, die Kreativität leben und atmen. Direkt in deinen Posteingang.
Mit dem Absenden dieses Formulars erklären Sie sich damit einverstanden, Updates von Affinity zu erhalten. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzrichtlinie.